Gesundheitswesen

Warnsignale frühzeitig wahrnehmen

Der Gesundheitsbereich nimmt eine wichtige Rolle im Kontext der häuslichen Gewalt ein. Ob bei einer Routinekontrolle oder Notfallbehandlung – Fachleute des Gesundheitswesens sind überdurchschnittlich oft mit gewaltbetroffenen Frauen und Kindern konfrontiert. Europäische Studien belegen, dass rund fünf Prozent der Patientinnen medizinische Institutionen aufgrund akuter gesundheitlicher Folgen von häuslicher Gewalt aufsuchen.

 


«Nachdem er mir den ganzen Nachmittag im Wohnzimmer mit Fäusten und Tritten traktiert hatte und ich in bat auf die Toilette gehen zu dürfen, drehte er völlig durch und schlug mir mit aller Kraft ins Gesicht. Ich verlor das Bewusstsein … Sie holten mich ab und brachte mich ins Spital. Dort erzählte ich, ich sei die Treppe hinuntergefallen und habe mir dabei die Nase gebrochen.»

Häusliche Gewalt erkennen

Sie sind mit Frauen konfrontiert, die

  • in akuten Gewaltsituationen leben,
  • akute Verletzungen haben, 
  • an langfristigen Folgen leiden oder
  • primäre Verletzungen behandeln lassen und vielleicht dadurch alte Traumata wiederbeleben.

Es gibt keine einheitlichen Folgen von häuslicher Gewalt. Dauer, Art und Intensität der Misshandlungen sind so unterschiedlich wie die Frauen, die sie erleben. Körperliche oder psychische Beschwerden sollen als Warnsignale verstanden werden. 

Grundsätzlich kann jede körperliche oder psychische Symptomatik durch erlittene häusliche Gewalt hervorgerufen werden und sollte immer mitgedacht werden. Die gesundheitliche Beeinträchtigung kann in Form von frischen Verletzungen durch akute Gewalteinwirkung sichtbar werden. Aber auch chronische Erkrankungen können ein Ausdruck der Not sein, in der sich die gewaltbetroffene Frau befindet.

Welche Indikatoren weisen auf erlittene Gewalt hin?
Das Erkennen von Indikatoren und Red Flags als Warnsignale für erlebte Gewalt ist der erste Schritt in die richtige Richtung und führt zu einer angemessenen Diagnose. In der Fachliteratur gibt es verschiedene Listen von Indikatoren. Gemeinhin werden sie in situative, körperliche und psychische Indikatoren unterteilt. Im beruflichen Alltag hat sich die Liste aus dem Handbuch «Häusliche Gewalt erkennen und richtig reagieren» bewährt. 

Situative Indikatoren

  • Nervöses, ängstliches und ausweichendes Verhalten
  • Depressiver, gleichgültiger Umgang mit Verletzungen und Beschwerden
  • Verheimlichung, Nicht-Erwähnen, Verharmlosen von Verletzungen oder Medikamentenkonsum
  • Widersprüchliche und lückenhafte Erklärungen über die Ursache von Verletzungen und Beschwerden
  • Auffällig langer Zeitraum zwischen dem Entstehen einer Verletzung oder dem Beginn der Beschwerden und dem Aufsuchen einer Institution
  • Wiederholter Besuch von Notfalleinrichtungen, vorwiegend nachts oder an Wochenenden
  • Hartnäckige Begleitperson, die für Betroffene spricht, antwortet oder übersetzt
  • Hartnäckige Begleitperson, die nicht von der Seite der Betroffenen weicht und z.B. den Behandlungsraum nicht verlässt, im Sanitätsfahrzeug mitfährt oder bei der Visite dabei sein will
  • Betroffene vermeidet Blickkontakt und/oder Gespräch mit Begleitperson
  • Widerstand gegen einen stationären Aufenthalt
  • Drängen auf stationären Aufenthalt oder Verlängerung dessen ohne medizinische Ursache 
  • Versäumen/Verschieben von Terminen
  • Vorzeitiger Abbruch der Behandlung

Situative Indikatoren im Sozial- und Gesundheitsverhalten der Betroffenen

  • Sozialer Rückzug
  • Schwierigkeiten am Arbeitsplatz 
  • Häufiges und kurzfristiges Krankmelden 
  • Einnahme von Psychopharmaka 
  • Unachtsamer Umgang mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes, Asthma oder HIV/Aids
  • Gesundheitsgefährdendes Sexualverhalten

Sich vorab gut informieren

Sehr oft sind in den Institutionen Dokumente über die internen Abläufe bei Verdacht auf häusliche Gewalt vorhanden. Es ist häufig klar definiert, wer was zu tun hat und mit welchen Fachstellen in der Regel zusammengearbeitet wird. Fehlen solche Dokumente gänzlich oder sind die Zuständigkeiten unklar, ist es wichtig, dass Sie sich mit Ihrer vorgesetzten Person besprechen, wie Sie weiter vorgehen sollen, und sich über die regionalen Fachstellen informieren.

Sorgfältig dokumentieren ist wichtig

Als Fachperson im Gesundheitswesen sind Sie oftmals die einzige Zeugin oder der einzige Zeuge. Vielleicht sind Sie die einzige Person, welche die Lebensgeschichte der betroffenen Frau kennt. Die ärztliche Dokumentation ist häufig das einzige Beweismittel für gewaltbetroffene Menschen.

Der medizinischen Behandlung und deren sorgfältigen Dokumentation haben eine grosse Bedeutung. Viele Menschen, die von Gewalt betroffen sind, wissen zum Zeitpunkt nicht, dass ärztliche Zeugnisse und Berichte in allen rechtlichen Verfahren wichtig sind und allfällige Gegenaussagen widerlegen können. Informieren Sie Ihre Patientin darüber!

Die ärztliche Dokumentation kann für gewaltbetroffene Frauen hilfreich sein für:

  • strafrechtliches Verfahren
  • polizeiliche Anzeige
  • Wegweisung, Annäherungsverbote
  • Fragen rund um das Sorgerecht
  • Opferhilfeansprüche 
  • aufenthaltsrechtliche Verfahren bei Migrantinnen

Da es sich bei häuslicher Gewalt oftmals um ein Vier-Augen-Delikt handelt, es also ausser den beiden Beteiligten keine weiteren Beweise gibt, bekommt die ärztliche Dokumentation eine bedeutsame Rolle:

  • Die erlittene Gewalt ist sicher dokumentiert und festgehalten.
  • Betroffene Frauen können auf etwas Schriftliches zurückgreifen.
  • Die Misshandlungsgeschichte und deren Verlauf werden ersichtlich. 
  • Die Dokumentation dient Betroffenen als Erinnerungshilfe bezüglich des zeitlichen Ablaufs.
  • Die Dokumentation erfüllt noch einen weiteren sehr wichtigen Aspekt, nämlich gesehen und ernst genommen zu werden.

Als Hausarzt ist Christian Studer mit gewaltbetroffenen Menschen konfrontiert. Er spricht darüber, wie wichtig Vertrauen ist und wie er in einer solchen Situation handelt.

Vertrauen heisst: sprechen können

Seien Sie sich darüber bewusst, dass es nur wenige betroffene Frauen gibt, welche die erlebte Gewalt von sich aus ansprechen. Dies bedeutet aber nicht, dass sie das nicht wünschen – im Gegenteil. Zahlreiche Studien belegen, dass gewaltbetroffene Frauen froh sind, auf das Thema angesprochen zu werden. Bevor Sie das Gespräch suchen:

  • Welche Indikatoren und Red Flags haben Sie erkannt? 
  • Sind der Schutz und die Sicherheit der betroffenen Person gewährleistet?
  • Haben Sie Informationsmaterial bereitgelegt?
  • Haben Sie eine angenehme und sichere Atmosphäre geschaffen?

Tipps für die Gesprächsführung mit einer betroffenen Patientin:

  • Wenn Sie mit einer Patientin über Gewalt sprechen, nehmen Sie sich Zeit. Auch für sich selbst. 
  • Seien Sie sich sicher, dass Sie bereit sind, Ihrer Patientin offen zuzuhören und sie zu unterstützen. Eine ruhige und ungestörte Umgebung ist wichtig. Seien Sie sich bewusst, dass dieses Gespräch für Ihr Gegenüber unter Umständen lebensrettend sein kann. 
  • Es ist wichtig, dass Sie die Hilfsangebote in Ihrer Region kennen und Sie die entsprechenden Flyer o.ä. zur Hand haben. 
  • Unabhängig davon, mit welcher Begleitperson Ihre Patientin erscheint, sprechen Sie vermutete oder tatsächliche Gewalterfahrung nie im Beisein anderer Personen an. Sie könnten so die Sicherheit Ihrer Patientin massiv gefährden. Ob und zu welchem Zeitpunkt Angehörige einbezogen werden sollen, hängt von der konkreten Situation ab. Bitten Sie also die Begleitperson, im Wartezimmer Platz zu nehmen. 
  • Seien Sie sich bewusst, dass die Patientin die Expertin ihrer Situation ist. Sie kann die Gefahr, in der sie sich befindet, einschätzen wie das keine andere Person kann. Sie wird die Blicke und Worte, auch die Schläge ihres Partners richtig lesen können. Oft berichten Frauen, dass sie bereits an den Schritten im Treppenhaus wissen, wie ihr Partner gelaunt ist und ob es zu Streit kommen wird. 
  • Es bleibt die Entscheidung der Patientin, wann und ob sie sprechen möchte. Schnell erteilte Ratschläge (wie etwa den Partner nun endlich zu verlassen oder den Mann anzuzeigen) sind meistens nicht von Nutzen. Bieten Sie also Unterstützung an, ohne ein bestimmtes Handeln zu verlangen. Respektieren Sie das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Viele betroffene Frauen haben schon die Erfahrung gemacht, dass ihnen die Hilfe entzogen wird, wenn sie sich nicht so verhalten, wie ihnen empfohlen wurde. Der richtige Zeitpunkt für eine Trennung kennt nur Ihre Patientin. Es mag schwierig sein, nur zuzuhören und doch ist dieses aktive Zuhören die Fähigkeit, welche die Patientinnen am meisten schätzen und brauchen. 
  • Die Entscheidung der Patientin akzeptieren und in Beziehung mit ihr bleiben – so könnte einer der zentralsten Grundsätze überhaupt lauten.
  • Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, Ihre Patientin zu entlasten. Sie muss hören, dass sie nicht die Einzige ist, die das erlebt und vor allem, dass es verschiedene Wege gibt, um aus der gewaltbeladenen Situation zu kommen.

Hat Ihre Patientin Migrationshintergrund?
Häusliche Gewalt findet unabhängig von sozialem Status und kulturellem Hintergrund statt. Dennoch sind einige Themen wichtig, wenn Patientinnen mit Migrationshintergrund betroffen sind. Denn zu der Gewalterfahrung können unterschiedliche Problemstellungen hinzukommen:

  • Das Gespräch soll verstanden werden – wenn nötig ziehen Sie eine Dolmetscherin bei. Beziehen Sie die Patientin dabei ein. Oftmals kennen sich die Personen aus dem eigenen Kulturkreis gut. Die Übersetzung sollte nicht durch Angehörige erfolgen. 
  • Berücksichtigen Sie den Aufenthaltsstatus und bedenken Sie, dass eine mögliche Trennung oder Scheidung einen Einfluss auf den Aufenthaltsstatus haben kann. Seien Sie sich auch bewusst, dass Ihre Patientin vielleicht nicht die gleichen Möglichkeiten wie eine Frau aus der Schweiz hat, z.B. was einen Kantonswechsel betrifft. 
  • Wirken Sie Isolation entgegen. 
  • Betonen Sie, dass das Gespräch vertraulich ist. Unterstreichen Sie unbedingt Ihre Schweigepflicht und erklären Sie nochmals Ihre Funktion und Institution. 
  • Stellen Sie sicher, dass die Patientin lesen und schreiben kann, bevor Sie Material abgeben.
  • Vielleicht ist Ihre Patientin wenig vertraut mit dem Hilfs-und Gesundheitssystem der Schweiz und kennt die entsprechenden Unterstützungsangebote nicht. Frauen aus anderen Herkunftsländern sind oft schlecht vernetzt und haben aufgrund ihrer Migrationsgeschichte teilweise Diskriminierung erlebt. Ihr Vertrauen in amtliche Stellen ist oft gering und muss wiederaufgebaut werden. 

Sind Kinder dabei?

  • Der Schutz der Kinder ist höher zu bewerten als der Wunsch nach Selbstbestimmung Ihrer Patientin. Klären Sie unbedingt, ob die Kinder in Gefahr sind und bedenken Sie, dass Kinder immer mitleiden, wenn es um häusliche Gewalt geht. 
  • Benennen Sie die Verantwortung, die Ihre Patientin gegenüber den Kindern hat und besprechen Sie ihre Möglichkeiten, die Kinder zu schützen. 
  • Vermitteln Sie möglichst konkrete Informationen und vermeiden Sie dabei Anschuldigungen. 
  • Kommen Sie zur Ansicht, dass das Kindswohl ernsthaft und akut gefährdet ist, besprechen Sie sich mit den dafür zuständigen Personen aus Ihrer Institution oder aus einer Fachstelle. Informieren Sie aber in jedem Fall, egal welchen Schritt Sie machen, Ihre Patientin darüber.

Arbeiten Sie ressourcenorientiert

  • Machen Sie mit Ihrer Patientin eine Auslegeordnung Ihrer Stärken und betonen Sie Ihren Mut, mit dem Sie es geschafft hat, über die erlebte Gewalt zu sprechen. 
  • Weisen Sie auf das bisher Erreichte hin und fragen Sie nach den Dingen, die Freude machen und Kraft spenden. 
  • Suchen Sie gemeinsam nach Erlebnissen, die in guter Erinnerung sind. In der Krise werden diese Anteile oftmals sehr klein – lassen Sie diese Anteile grösser werden und weisen Sie auf Stellen hin, die weiterhelfen können. Sie schaffen so eine neue Perspektive, die in der Krise oft nicht gesehen werden kann.

Vermeiden Sie eine Retraumatisierung
Im Erzählen kann es zu Flashbacks kommen. Gerade wenn Ihre Patientin ein grosses Mitteilungsbedürfnis hat, besteht die Gefahr, dass sie von Gefühlen und Bildern überschwemmt wird. Oftmals ist dies nicht gänzlich zu vermeiden. Versuchen Sie aber möglichst zu unterbrechen, wenn Sie das Gefühl haben, dass das Gespräch eine Dynamik annehmen könnte, die nicht hilfreich ist. Weisen Sie auf spezialisierte Stellen hin. Besprechen Sie zum Beispiel die Möglichkeit einer Psychotherapie. Fragen Sie nur so viel nach, wie es für Sie zum aktuellen Zeitpunkt nötig ist.

Hilfe bieten ohne überstürzt zu handeln

Für alle medizinischen Institutionen gilt das Gebot, Anzeichen von Gewalt ernst zu nehmen und eine angemessene Versorgung anzubieten. Es ist nicht die Aufgabe der medizinischen Fachpersonen, häusliche Gewalt zu beenden. Dies wäre ein vermessener Anspruch. Sie leisten aber wertvolle Hilfe, wenn es darum geht, die Folgen von häuslicher Gewalt zu lindern und möglicherweise weitere Unterstützung einzuleiten. Dies kann zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität der gewaltbetroffenen Frauen führen.

Handeln – aber wie? Berücksichtigen Sie folgende Grundsätze:

  • Vermeiden Sie überstürztes Handeln. 
  • Machen Sie sorgfältige Abklärungen.
  • Suchen Sie nicht die Konfrontation mit dem Täter (oder der Täterin), solange die Person nicht geschützt ist.
  • Ambivalenz gehört dazu – bleiben Sie dran!

Vorgehen bei Gefährdung:

  • Wenn Sie eine Gefährdung wahrnehmen und erkennen, dokumentieren Sie diese.
  • Überprüfen Sie Ihre Wahrnehmung.
  • Informieren Sie die Leitung. 
  • Schätzen Sie die Gefährdung ein.
  • Holen Sie sich fachliche Unterstützung.
  • Planen Sie gemeinsam das weitere Vorgehen.

Fragen rund um häusliche Gewalt

Es stellen sich viele Fragen, wenn Sie als Ärztin, Arzt oder Fachperson im Gesundheitswesen mit häuslicher Gewalt konfrontiert sind oder einen Verdacht bei einer Ihrer Patientinnen haben. Welche Indikatoren gibt es? Wie gehen Sie im Gespräch vor? Wir geben Ihnen Antworten auf die häufigsten Fragen.

Inwiefern ist das Gesundheitswesen wichtig für den Problembereich der häuslichen Gewalt?
Betroffene wenden sich nicht nur in Notfallsituationen, sondern auch bei Routinebesuchen zuerst an Fachleute im Gesundheitswesen. Diesem kommt für die Früherkennung und die Vernetzung von Betroffenen mit dem spezialisierten Hilfesystem eine sehr wichtige Rolle zu. Zum einen geht es um fachliche Aufgaben wie die Behandlung der körperlichen Verletzung. Zum anderen ist das einfühlsame Gespräch sehr zentral. Gerade wenn das Thema nicht offen ausgesprochen wird, müssen Fragen sehr sensibel gestellt werden.

Was ist wichtig bei einem ärztlichen Gespräch?
An erster Stelle steht die Sicherheit der Frau, das heisst der Mann soll nicht anwesend sein. Bei einem Verdacht ist es wichtig, das Thema anzusprechen. Verschiedene Studien belegen, dass sich die Betroffenen wünschen, angesprochen zu werden. Empathie ist wichtig bei diesen Gesprächen. Meistens ist die erlittene Gewalt mit viel Scham verbunden und für viele Frauen ist es nicht leicht, darüber zu sprechen. Wichtig ist, den Betroffenen aufzuzeigen, was es für Möglichkeiten gibt und Informationen zu den spezialisierten Fachstellen zu geben. Je nach Situation und Dringlichkeit kann es sinnvoll sein, gemeinsam mit der betroffenen Frau die nächsten Schritte ganz konkret zu besprechen oder einen Ersttermin bei einer Fachstelle zu vereinbaren.

Beachten Sie unbedingt die Grenzen des eigenen Fachgebiets. Handlungsempfehlungen und Ratschläge, die ausserhalb des Gesundheitskontextes liegen, wie etwa «Soll ich mich trennen?» oder «Soll ich jetzt Anzeige erstatten?», sind oftmals nicht hilfreich. Hier ist es angezeigt, an Fachstellen wie Opferberatungsstellen oder Frauenhäuser zu verweisen. Vergessen Sie nicht, die entsprechenden Telefonnummern abzugeben. 

Ein Gespräch erfordert Aufmerksamkeit und Zeit. Es ist wichtig, dass Sie sich sicher fühlen und die Hilfsangebote in Ihrem Kanton kennen. Flyer und Prospekte in mehreren Sprachen zu den Beratungsstellen sollten in keinem Wartezimmer fehlen.

Warum ist es für Patientinnen schwierig, über Misshandlungen und häusliche Gewalt zu sprechen?
Nur wenige Frauen sprechen von sich aus über die erlebte Gewalt. Daraus abzuleiten, dass sich Frauen kein Gespräch wünschen, wäre falsch. Es gibt unterschiedliche Gründe, die sie davon abhalten: 

  • Frauen fühlen sich schuldig und verantwortlich für das, was passiert ist. Scham und Schuldgefühle sind die Hauptgründe, die dazu führen, das Gespräch nicht zu suchen. 
  • Die Angst verurteilt zu werden, kann ebenfalls eine grosse Hürde darstellen. Oftmals haben die Frauen von Verwandten oder Arbeitskolleginnen bereits mehrmals gehört, sie sollen sich doch besser trennen und nicht in der Beziehung bleiben. Die Realität zeigt aber, dass die Entscheidung die Beziehung zu beenden oftmals ein jahrelanger Prozess ist. 
  • Angst haben die Frauen auch vor weiterer Gewalt; nicht zu Unrecht. Die Trennung aus einer Gewaltbeziehung kann tödlich enden. 
  • Viele Frauen sprechen mit niemandem über die erlebte Gewalt, weil sie davon ausgehen, alleine mit dieser Situation zu sein. Dies, obschon jede fünfte Frau im Laufe ihres Lebens mindestens einmal mit Gewalt in der Partnerschaft konfrontiert ist. 
  • Nicht zu unterschätzen sind die situativen Aspekte der Situation. So ist die Atmosphäre für die meisten Frauen wichtig. Es mag wenig erstaunen, dass das Verhalten des Gegenübers von grosser Bedeutung ist.

Gibt es klare Indikatoren, die auf mögliche häusliche Gewalt hinweisen?
Bekannt in der Medizin ist der Begriff Red Flags, er entspricht dem Terminus Indikator. 11 Red Flags (nach Hagemann-White und Bohne) helfen zu erkennen, ob eine Person Opfer häuslicher Gewalt wurde: 

1. Chronische Beschwerden, die keine offensichtlichen physischen Ursachen haben
2. Verletzungen, die nicht mit der Erklärung, wie sie entstanden sind, übereinstimmen
3. Verschiedene Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien
4. Partner, der übermässig aufmerksam ist, kontrolliert und nicht von der Seite der Frau weichen will
5. Physische Verletzungen während der Schwangerschaft
6. Spätes Beginnen mit der Schwangerschaftsvorsorge
7. Häufige Fehlgeburten
8. Häufige Suizidversuche und Gedanken
9. Verzögerung zwischen Zeitpunkt der Verletzung und Aufsuchen der Behandlung
10. Chronische Darmstörung (Reizdarm)
11. Chronische Beckenschmerzen

Gibt es konkrete Fragen, die Sie bei Verdacht empfehlen können?
Ganz konkrete Fragen zu nennen, ist schwierig. Natürlich könnten Sie nach der Beziehung fragen, wie wohl es der Person in der Beziehung ist oder eine ähnliche Frage stellen. Die Erfahrung zeigt, dass wenn Sie aufmerksam wahrnehmen, über spezialisierte Fachstellen informiert sind und Gespräche empathisch führen, die richtigen Fragen stellen werden. Und: Wenn die betroffene Frau nicht darüber sprechen möchte, akzeptieren Sie das.

Oft geht es um ein Arztzeugnis – warum ist das so wichtig?
Nicht nur das Arztzeugnis, sondern überhaupt die sorgfältige Dokumentation der Gewaltfolgen ist für den Schutz und die Unterstützung der betroffenen Frau von grosser Bedeutung.  Oftmals ist es für die Betroffenen, die so viel Unrecht und Gewalt erlebt haben, nicht klar, dass ihre Aussagen als Beweis nicht reichen. Selbst körperliche Verletzungen und deren Ursache können angezweifelt werden. Die ärztliche Dokumentation ist für Polizei und Justiz sehr wichtig. 

Das Arztzeugnis soll also gut, verlässlich und korrekt erstellt werden. Der Patientin muss klar sein, was nun mit dem Bericht gemacht wird. Geht er an die Strafverfolgung? Bekommt die Frau auch ein Exemplar? An welche Amtsstellen geht der Bericht noch? Es ist wichtig, sorgfältig und klar zu kommunizieren. Natürlich muss die Frau die Gesundheitsfachleute vom Amtsgeheimnis entbinden.

Als erstes kommt mir oft die Strafanzeige bei der Polizei in den Sinn, ist das richtig?
Inwiefern und ob überhaupt eine Strafanzeige sinnvoll und hilfreich ist und was sie für die einzelne Person bedeuten kann, ist nicht einfach zu beantworten. Eine Anzeige zu erstatten hat Folgen. Das muss vorgängig gut besprochen werden. Eine Anzeige ist immer nur eine Option und kein Garant für eine Verbesserung der Situation. Eine vorgängige Beratung bei einer Fachstelle ist sinnvoll.

Was ist meine Aufgabe als Fachperson, wenn ich häusliche Gewalt vermute?
Ihre Aufgabe ist es,

  • häusliche Gewalt zu erkennen,
  • die betroffene Person zu informieren bzw. Informationsmaterial abzugeben,
  • Betroffene anzusprechen,
  • Betroffene zu behandeln,
  • zu dokumentieren und
  • eine Triage vorzunehmen.

Frauen, die von Gewalt betroffen sind, leben oftmals isoliert und verfügen über wenig soziale Kontakte. Ihnen fehlen häufig die relevanten Informationen, sie kennen zum Teil weder ihre Rechte noch entsprechende Hilfsangebote. Es ist daher wichtig, dass Ihre Institution Informationsbroschüren der entsprechenden Fachstellen gut sichtbar aufgelegt hat. Das Auflegen der Broschüren im Wartezimmer signalisiert, dass Sie Kenntnisse im Umgang mit häuslicher Gewalt haben. Dies vermittelt Sicherheit.