Gewaltbetroffene Menschen arbeiten – auch in Ihrem Betrieb?
In der Schweiz sind über zwei Millionen Frauen und rund drei Millionen Männer erwerbstätig. Da jede fünfte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt zuhause erlebt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie eine oder mehrere betroffene Personen in Ihrem Betrieb beschäftigen. Nutzen Sie die Chance, den von häuslicher Gewalt betroffenen Menschen zu helfen.
Häusliche Gewalt ist weit verbreitet ist und kann die Gesundheit massiv gefährden. Der Arbeitsort kann ein wichtiger Ort sein, an dem gewaltbetroffene Menschen Informationen, Beratung und Unterstützung finden könnten. Die Reaktion des Umfelds ist ein wesentlicher Faktor und kann in hohem Masse dazu beitragen, dass betroffene Personen ihre Situation verändern können.
Emma A. ist Lernende und wird seit Beginn ihrer Lehre täglich von ihrem Vater zur Arbeit gebracht und auch wieder abgeholt. In letzter Zeit fällt sie durch Müdigkeit und mangelnde Konzentration auf. Auf Fragen nach der Ursache reagiert Emma ausweichend. Kurz vor den Sommerferien sucht Emma A. das Gespräch mit dem Ausbildungsverantwortlichen und berichtet verzweifelt, dass sie in den Ferien einen ihr unbekannten Landsmann heiraten müsse.
Häusliche Gewalt erkennen
Häusliche Gewalt ist heute ein öffentliches Thema und es besteht Konsens darüber, dass man etwas dagegen unternehmen muss. Häusliche Gewalt hat Auswirkungen auf die Arbeitswelt und sollte als mögliche Ursache für das (veränderte) Verhalten immer mitgedacht werden.
So vielfältig wie gewaltbetroffene Menschen sind, so unterschiedlich können auch ihre Indikatoren sein:
- Oftmals leiden Menschen, die Gewalt erleben unter Schlafstörungen und Konzentrationsstörungen.
- Körperliche Spuren der Gewalteinwirkung an Gesicht oder anderen sichtbaren Stellen sind selten oder selten sichtbar. Die Gewalt bleibt also oft verdeckt.
- Eine Mehrheit der betroffenen Frauen kommt mindestens fünfmal pro Monat zu spät zur Arbeit und verlässt mehrmals pro Monat die Arbeit frühzeitig.
- Oftmals fehlen betroffene Menschen über mehrere Tage pro Monat.
Auch Stalking ist eine Form häuslicher Gewalt und kann das Arbeitsleben betroffener Frauen massiv stören. US-amerikanische Forschungen zeigen auf, dass 75 % der gewaltbetroffenen Frauen gezielt am Arbeitsplatz durch belästigende Anrufe, physische Verletzungen und unerwünschte Besuche des gewaltausübenden Partners im Büro beeinträchtigt werden.
Sich vorab gut informieren
Sehr oft sind in Institutionen Dokumente über die internen Abläufe bei Verdacht auf häusliche Gewalt vorhanden. Es ist häufig klar definiert, wer was zu tun hat und mit welchen Fachstellen in der Regel zusammengearbeitet wird. Fehlen solche Dokumente gänzlich oder sind die Zuständigkeiten unklar, ist es wichtig, dass Sie sich mit Ihrer vorgesetzten Person besprechen, wie Sie weiter vorgehen sollen, und sich über die regionalen Fachstellen informieren.
Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann bietet Leitfäden, Broschüren, Checklisten, Merkblätter, Unterrichtsmaterialien, Musterbriefe, Dokumentationen und anderes mehr.
Maya F. lebt seit vier Jahren mit einem Mann zusammen und wird seit vielen Jahren körperlich und sexuell misshandelt. Sie kommt immer wieder zu spät zur Arbeit und wird immer öfters krankgeschrieben. Ihr Arbeitsplatz ist für sie sehr wichtig und sie möchte diesen unter keinen Umständen verlieren. Ihren Alltag bestreitet sie nur dank Medikamenten.
Sorgfältig dokumentieren ist wichtig
Das veränderte oder auffällige Verhalten der Mitarbeiterin sollten Sie möglichst konkret beschreiben. Wichtig ist, dass Sie das Verhalten nicht bereits interpretieren. Dokumentieren Sie ebenfalls Interventionen, die bereits stattgefunden haben. Je nachdem kann ein solches Dokument ein wichtiges Beweismittel sein.
Vertrauen heisst: sprechen können
Im konkreten Einzelfall gibt es viele Hindernisse und Hürden, die ein Ansprechen erschweren. So braucht es Mut, ein unangenehmes Thema anzusprechen und sich auf die Erzählung der gewaltbetroffenen Person einzulassen. Es braucht Verständnis für die Situation gewaltbetroffener Menschen, die sich oft schämen oder schuldig fühlen. Auch können Fragen auftauchen wie «Ist das nun wirklich mein Business?» oder «Ist es nicht einfach Privatsache, wie ein Mensch die Beziehung leben will?»
Erfahrungsberichte von gewaltbetroffenen Frauen zeigen, dass nur die wenigsten Betroffenen von sich aus über die erlebte Gewalt erzählen. Es ist aber nicht so, dass Menschen, die Gewalt erleben nicht darüber sprechen möchten oder es nicht schätzen würden, angesprochen zu werden.
Tipps für die Gesprächsführung mit einer (vielleicht) gewaltbetroffenen Mitarbeiterin:
- Schaffen Sie Bedingungen, die es der Mitarbeiterin erlauben, sich wohl und respektiert zu fühlen
- Nehmen Sie sich Zeit
- Akzeptieren Sie die Entscheidungen der Mitarbeiterin
- Vermitteln Sie eine klare Haltung gegen häusliche Gewalt
- Bieten Sie einen weiteren Termin an
- Denken Sie an Ihre eigene Sicherheit
Daniel M. hat sich vor ein paar Monaten von seiner Freundin getrennt. Sie arbeitet bei derselben Firma. Sie droht mit Suizid und betreibt massives Mobbing gegen Daniel. Im Mitarbeitergespräch wurde ihm gesagt, er solle aufhören seine Ex-Partnerin zu stalken und von der Arbeit abzuhalten.
Hilfe bieten ohne überstürzt zu handeln
Betroffene Frauen haben oftmals Angst vor Stigmatisierung, vor Veränderung und davor, was passiert, wenn sie sich jemandem anvertrauen. Es ist wichtig, ohne Einwilligung der betroffenen Person nichts gegen aussen zu unternehmen und dies auch so zu kommunizieren.
Handeln – aber wie? Berücksichtigen Sie folgende Grundsätze:
- Vermeiden Sie überstürztes Handeln.
- Suchen Sie nicht die Konfrontation mit dem Täter.
- Ambivalenz gehört dazu – bleiben Sie dran!
Vorgehen bei Gefährdung:
- Wenn Sie eine Gefährdung wahrnehmen und erkennen, dokumentieren Sie diese.
- Überprüfen Sie Ihre Wahrnehmung.
- Holen Sie sich fachliche Unterstützung.
- Planen Sie gemeinsam das weitere Vorgehen.
Wir möchten Unternehmungen ermutigen, häusliche Gewalt zu thematisieren. Diese Massnahmen können zu einer sicheren Atmosphäre in Ihrem Betrieb führen:
- Dulden Sie keine Witze oder Sprüche, die häusliche Gewalt banalisieren oder lächerlich machen.
- Generell empfehlen wir, diskriminierende Sprüche und ähnliches nicht zu akzeptieren und anzusprechen.
- Am Arbeitsplatz kann auch Stalking ein Thema sein. Ist eine Mitarbeiterin davon betroffen, so sprechen Sie mit ihr und handeln Sie.
- Etablieren Sie Strukturen in Ihrem Unternehmen, die Betroffenen Hilfe und Unterstützung geben. Dazu gehören Informationen und Orientierungshilfen, um häusliche Gewalt als diese zu erkennen und darauf reagieren zu können.
- Bieten Sie Fachreferate und Workshops (Verlinkung zur Site Bildungsstelle/Bildung Schulung & Referate) zum Thema häusliche Gewalt an.
- Beziehen Sie für die professionelle Beratung und Begleitung der Mitarbeiterinnen Beratungsstellen und Schutzeinrichtungen der Region ein.
Oberstaatsanwältin Gisela Jaun gibt Auskunft, wie häusliche Gewalt strafrechtlich verfolgt wird.
Fragen rund um häusliche Gewalt
Es stellen sich viele Fragen, wenn Sie in Ihrem Unternehmen mit häuslicher Gewalt konfrontiert sind oder einen Verdacht bei einer Mitarbeiterin haben. Welche Indikatoren gibt es? Wie gehen Sie im Gespräch vor? Wir geben Ihnen Antworten auf die häufigsten Fragen.
Ich bin HR-Verantwortliche einer Modekette. Wir beschäftigen rund 450 Mitarbeitende in der ganzen Schweiz. Was soll ich machen, wenn ich einen Verdacht habe?
Einen Verdacht zu haben, dass eine Mitarbeiterin von häuslicher Gewalt betroffen sein könnte, bedeutet ja schon einmal, dass Sie sich häusliche Gewalt als Ursache eines bestimmten Verhaltens vorstellen könnten. Dieses Bewusstsein ist der erste, wichtige Schritt. Versichern Sie sich, dass Sie sich genügend sicher fühlen, um das Thema anzusprechen.
Ich arbeite auf einem Sozialdienst und immer wieder kommen Klienten in die Beratung, deren Frau ich noch nie gesehen habe. Es kommt mir komisch vor, was raten Sie?
Laden Sie die Frau unbedingt ein. Falls Sie einen Korb bekommen, der Mann Ihnen sagt, die Frau spreche kein Deutsch und verstehe sowieso nichts oder könne wegen den Kindern nicht mitkommen, so bleiben Sie hartnäckig und offerieren Sie auf alle Einwände eine Lösung (z.B. Dolmetscherin). Falls es Ihre zeitlichen Ressourcen zulassen, können Sie auch einen Hausbesuch vorschlagen.
Als Betriebliche Sozialarbeiterin bin ich ab und zu mit dem Thema Stalking konfrontiert. Gibt es da Tipps?
Ja, immer wieder sind Unternehmen mit Stalking-Fällen konfrontiert. Ist eine Mitarbeiterin von Ihnen davon betroffen, erhält sie zum Beispiel belästigende Anrufe oder unerwünschte Besuche des gewaltausübenden Partners im Büro, so helfen folgende Verhaltenstipps weiter, die Sie der betroffenen Person geben können:
Der persönliche Schutz hat oberste Priorität
Ermutigen Sie die Mitarbeiterin, sich von einer professionellen Beratungsstelle über Stalking aufklären und über Unterstützungsmöglichkeiten informieren zu lassen. Im Notfall soll sie Schutz bei Verwandten, Freundinnen oder Freunden, in der Nachbarschaft oder in einem Frauenhaus suchen.
Jeden weiteren Kontakt konsequent vermeiden
Empfehlen Sie Ihrer Mitarbeiterin, nur einmal zu sagen, dass sie keinen Kontakt zur stalkenden Person mehr will. Die Aussage soll eindeutig, klar und direkt formuliert werden. Eine Aussage wie «ich kann nicht mehr mit dir zusammen sein, ich habe einen neuen Freund» ist zu vermeiden, denn sie werden von der stalkenden Person häufig in dem Sinne umgedeutet «hätte sie keinen neuen Freund, hätte sie Interesse an einer Beziehung mit mir» und hat so oft eine Fortsetzung des Stalking-Verhaltens zur Folge. Ihre Mitarbeiterin soll sich nicht auf Diskussionen oder Treffen einlassen, sondern klar formulieren, dass sie ab sofort keinen Kontakt mehr wolle – in welcher Form auch immer.
Das unerwünschte Verhalten dokumentieren
Ihre Mitarbeiterin soll alle Zuschriften, Geschenke aufbewahren und wenn möglich alle SMS, E-Mails und Telefonanrufe dauerhaft speichern. Sie sollte alles mit genauer Zeit- und Ortsangabe dokumentieren und allfällige Zeuginnen oder Zeugen notieren. Diese Informationen können später bei einer Anzeige oder bei der Gefährdungseinschätzung sehr wichtig sein.
Umfeld informieren
Nachbarschaft, Freundinnen und Freunde, vorgesetzte Person und Familie sollten über das Stalking informiert werden. Auf diese Weise hat das Umfeld die Möglichkeit zu warnen, respektive die Person zu schützen. Die Aufklärung verhindert auch, dass der Stalker (oder die Stalkerin) hinter dem Rücken und gegen den Willen der betroffenen Person Informationen erfragt und/oder schlecht über sie spricht.
Unterstützung suchen
Ermutigen Sie Ihre Mitarbeiterin, über ihre Erlebnisse, Ängste und Sorgen zu sprechen. Das hilft ihr, die Situation besser einzuschätzen und die Verantwortung für das unerwünschte Verhalten dem Stalker oder der Stalkerin abzugeben. Wenn es zu belastend ist, zum Beispiel die erhaltenen Briefe zu lesen, kann sie jemanden bitten, das für sie zu tun – und sie warnen, falls der Inhalt besorgniserregend ist. Empfehlen Sie der betroffenen Person unbedingt, sich von professionellen Beratungsstellen beraten und unterstützen zu lassen – sie ist nicht alleine und hat ein Anrecht auf Hilfe.
Juristische Massnahmen prüfen
Zusammen mit einer professionellen Beratungsstelle kann Ihre Mitarbeiterin allfällige strafrechtliche oder zivilrechtliche Möglichkeiten prüfen. Bei manchen Stalkern haben sich solche Massnahmen bewährt, bei manchen haben sie erneute Eskalationen hervorgerufen. Daher ist es wichtig, von Anfang an über die Konsequenzen und Abläufe genau informiert zu sein.