Bildungsbereich

Betroffene Kinder mitten unter uns

Auch Kinder, die unter häuslicher Gewalt leiden, gehen zur Schule. Sie sind also mittendrin. Oft sind Sie als Lehrpersonen und Schulsozialarbeiterinnen oder Schulsozialarbeiter die ersten, die Anzeichen von häuslicher Gewalt bei Kindern bemerken. Wie erkennen Sie bei einem Kind, ob es unter Gewalt leidet, und wie gehen Sie damit um, wenn Sie einen vagen Verdacht haben?

 


«Meine Lehrerin ist sehr nett. Sie hilft mir nach der Schule manchmal mit den Hausaufgaben. Sie ist zwar auch streng und hat schon ein paar Mal mit mir geschimpft, wenn ich zu laut war im Unterricht. Sie ist aber immer für mich da. Sie hat glaub auch gemerkt, dass bei mir Zuhause etwas nicht stimmt und hat gesagt, ich dürfe es ihr erzählen. Vielleicht mache ich das mal, wenn ich es nicht mehr aushalte.»

Susanna, 8 Jahre alt

Psychotherapeutin Sorina Zollinger arbeitet mit Kindern, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Sie berichtet über ihre Arbeit mit den Kindern und auch Müttern.

Häusliche Gewalt erkennen

Häusliche Gewalt ist weit verbreitet und sollte von Fachleuten, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, als Ursache von Auffälligkeiten mitgedacht werden. Die Auffälligkeiten können sehr unterschiedlich ausfallen und sind so individuell wie das Kind selbst. Es gibt kein eindeutiges Verhalten oder klarer Hinweis, der auf häusliche Gewalt deutet – oder nicht gleich zu Beginn. Jedes Kind ist und reagiert anders. Aber oftmals verdichtet sich ein Bild:

  • Vielleicht gibt es körperliche Spuren, die auf Gewalt hinweisen. 
  • Man weiss, dass Kinder erhöhte Werte im Bereich psychischer Belastungen und Verhaltensauffälligkeiten haben im Vergleich zu Kindern, die keine Gewalt erleben.
  • Sehr oft ist der Schulerfolg durch eine Beeinträchtigung der Lern- und Konzentrationsfähigkeit beeinflusst.
  • Es ist unbestritten, dass die Kinder oft unmittelbar nach einem Vorfall von Gewalt Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen oder Albträume haben und heftige, ungewohnte Emotionen zeigen.

Sich vorab gut informieren

Sehr oft sind in Institutionen Dokumente über die internen Abläufe bei Verdacht auf häusliche Gewalt vorhanden. Es ist häufig klar definiert, wer was zu tun hat und mit welchen Fachstellen in der Regel zusammengearbeitet wird. Fehlen solche Dokumente gänzlich oder sind die Zuständigkeiten unklar, ist es wichtig, dass Sie sich mit Ihrer vorgesetzten Person besprechen, wie Sie weiter vorgehen sollen, und sich über die regionalen Fachstellen informieren.

 


«Das war so toll am Samstag!
Mitten in der Stadt haben Sie «Hallo!» zu mir gesagt!
Den ganzen Tag höre ich immer noch Ihr «Hallo!»
Frau Lehrerin,
heisst das,
dass ich in die nächste Klasse komme?»

Albert Cullum, 1998

Sorgfältig dokumentieren ist wichtig

Das veränderte oder auffällige Verhalten sollten Sie möglichst konkret beschreiben. Wichtig ist, dass Sie das Verhalten nicht bereits interpretieren. Eine Person, welche das Kind nicht kennt, sollte sich ein Bild von der Situation machen können. Dokumentieren Sie ebenfalls Interventionen, die bereits stattgefunden haben.

Vertrauen heisst: sprechen können

Aus der Resilienzforschung ist bekannt, dass ein wichtiger Schutzfaktor eine Bezugsperson ist, die auch ausserfamiliär sein kann. Ein Kind, das durch Lernschwierigkeiten, einem auffälligen Sozialverhalten oder durch Traurigkeit auffällt, wird das Interesse für sein Wohlergehen spüren – auch wenn es noch nicht bereit ist, darüber zu sprechen. Sich getrauen zu erzählen, bedingt Vertrauen. Gespräche führen, wenn man häusliche Gewalt vermutet, ist eine Herausforderung.

Tipps für die Gesprächsführung mit einem betroffenen Kind:

  • Es ist wichtig, dass Sie sich gut auf das Gespräch vorbereiten und genügend Zeit haben. Sie wissen, was Sie fragen möchten und kennen Hilfsangebote. 
  • Ihre Fragen berücksichtigen auch kulturelle Hintergründe und Sprachkenntnisse. Je nachdem ist es sinnvoll, eine Dolmetscherin oder einen Dolmetscher beizuziehen.
  • Oftmals möchten Kinder hören, dass Sie das Gehörte niemandem erzählen. Sprechen Sie offen mit dem Kind über Ihre Sorge und machen Sie keine falschen Versprechungen in Bezug auf die Schweigepflicht. Wichtig ist, dass das Kind hört, dass Sie sich zum Beispiel im Team besprechen werden, aber dass niemand etwas gegen aussen unternimmt, ohne dass es davon weiss. 
  • Hat das Kind ausserfamiliäre Bezugspersonen und kennt deren Telefonnummern? Geben Sie dem Kind auch Ihre Telefonnummer oder je nachdem auch Ihre Mailadresse. 
  • Das Kind sollte die Nummer der Polizei 117 sowie des Sorgentelefons 147 kennen.

Am Ende des Gespräches wissen Sie im Idealfall,

  • was passiert ist,
  • von wem die Gewalt ausgeht,
  • wer verletzt wurde (Kind, Geschwister, Mutter, Vater – an alle Gewaltformen denken) und
  • wie lange die Gewalt bereits dauert.

Das Kind weiss,

  • dass es keine Schuld trägt,
  • dass es nicht alleine mit dem Problem ist,
  • dass es eine Bezugsperson hat und
  • dass ihm geholfen wird.

Kommt es zu einem Gespräch mit einem Kind oder einem Elternteil, gibt es viele Hilfestellungen. Die Lehrfilme von BIG e.V. Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen geben Ihnen sehr gute Anhaltspunkte, wie Sie ein Gespräch führen können. Natürlich müssen Sie Ihre eigenen Worte finden und die Gespräche situativ anpassen.

Hilfe bieten ohne überstürzt zu handeln

Wenn man sieht, dass ein Kind leidet, ist es oftmals sehr schwierig dies auszuhalten. Man möchte schnell etwas tun, um dem Kind zu helfen. Es kann leicht passieren, dass wir zu schnell handeln und das Kind zum Beispiel zum Reden bringen möchten. Da ist es wichtig, die Ruhe zu bewahren und nicht alleine zu handeln. Denn dies könnte die Situation tatsächlich verschlimmern. Es ist auch wichtig, die Grenzen des Kindes zu respektieren.

Handeln – aber wie? Berücksichtigen Sie folgende Grundsätze:

  • Vermeiden Sie überstürztes Handeln. 
  • Machen Sie sorgfältige Abklärungen.
  • Suchen Sie nicht die Konfrontation mit dem Täter (oder der Täterin), solange das Kind nicht geschützt ist.
  • Ambivalenz gehört dazu – bleiben Sie dran!

Vorgehen bei Gefährdung:

  • Wenn Sie eine Gefährdung wahrnehmen und erkennen, dokumentieren Sie diese.
  • Überprüfen Sie Ihre Wahrnehmung.
  • Informieren Sie die Leitung. 
  • Schätzen Sie die Gefährdung ein.
  • Holen Sie sich fachliche Unterstützung.
  • Planen Sie gemeinsam das weitere Vorgehen.

Fragen rund um häusliche Gewalt

Plötzlich gibt es viele Fragen und Unsicherheiten, wenn Sie als Schulsozialarbeiterin, Schulsozialarbeiter oder Lehrperson einen Verdacht haben, dass in Ihrer Schule ein Kind von häuslicher Gewalt betroffen sein könnte. Welche Hinweise gibt es? Wie gehen Sie in dieser Situation vor? Wir geben Ihnen Antworten auf die häufigsten Fragen.

Ich arbeite als Lehrerin und frage mich immer wieder, wie ich damit umgehen soll, wenn ich einen Verdacht hege?
Kooperation entlastet und schützt! Das ist ein zentraler Grundsatz von Barbara Kavemann, Autorin des Buchs «Handbuch Kinder und häusliche Gewalt». Niemand alleine – keine Person und keine Institution alleine – kann Gewalt gegen ein Kind erkennen, offenlegen, das Kind schützen und die Folgen tragen. Daraus lässt sich erkennen, wie wichtig Zusammenarbeit ist. Tauschen Sie sich aus. Mit der Pensenkollegin, der Schulleitung, dem Schulsozialarbeiter. Reden Sie über ihren Verdacht und überlegen Sie gemeinsam, was zu tun ist.

Gibt es klare Hinweise, die auf häusliche Gewalt deuten?
Klare Hinweise gibt es nicht. Vielleicht gibt es auch körperliche Spuren, die auf Gewalt hinweisen. Was man aber weiss ist, dass Kinder erhöhte Werte im Bereich psychischer Belastungen und Verhaltensauffälligkeiten haben im Vergleich zu Kindern, die keine Gewalt erleben. Die Auffälligkeiten können sehr unterschiedlich ausfallen und sind so individuell wie das Kind selbst. Sehr oft ist der Schulerfolg durch eine Beeinträchtigung der Lern- und Konzentrationsfähigkeit beeinflusst.

Kann man etwas falsch machen und die Situation so noch verschlimmern?
Zu wissen, dass ein Kind häusliche Gewalt erlebt, erschüttert. Man möchte, dass die Gewalt sofort aufhört. Doch überstürztes, emotionales Handeln ist nie sinnvoll. Kinder haben einen sehr hohen Ehrenkodex und fühlen sich ihren Eltern gegenüber verpflichtet. Sie möchten loyal sein. Dies gilt es unbedingt zu berücksichtigen.

Damit mögliche Interventionen die Situation nicht verschlechtern, ist es wichtig, die Abklärung sorgfältig zu machen und entsprechend zu dokumentieren. Nutzen Sie Ihre Möglichkeiten und besprechen Sie sich mit Kolleginnen und Kollegen, einer geeigneten Fachstelle o.ä. und wägen Sie gemeinsam ab. Der Aufwand, der dieses sorgfältige Vorgehen mit sich bringt, lohnt sich. 

Es ist gut möglich, dass das Kind am nächsten Tag zu Ihnen kommt, um zu sagen, dass alles doch nicht so schlimm sei. Dass es vielleicht übertrieben habe und dass Sie das alles am besten wieder vergessen sollen. Auch kann es sein, dass Sie plötzlich unsicher werden, ob Sie nicht überreagieren oder das Gegenteil: dass nun endlich etwas gehen muss. Überprüfen und besprechen Sie gemeinsam wie das richtige Verhalten und Vorgehen ist.

Was ist meine Aufgabe als Fachperson, wenn ich häusliche Gewalt vermute?
Ihre Aufgabe ist es,

  • häusliche Gewalt zu erkennen,
  • Betroffene zu unterstützen,
  • Betroffene und sich zu schützen.

Häusliche Gewalt ist weit verbreitet und sollte von Fachleuten, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, als Ursache von Auffälligkeiten mitgedacht werden. Ein Kind, das durch Lernschwierigkeiten, einem auffälligen Sozialverhalten oder durch Traurigkeit auffällt, wird das Interesse für sein Wohlergehen spüren – auch wenn das Kind noch nicht bereit ist, darüber zu sprechen. Wenn eine vertrauensvolle Beziehung besteht, kann häusliche Gewalt angesprochen werden. Das Kind erfährt dadurch, dass häusliche Gewalt ein bekanntes Problem ist, von dem auch andere Kinder betroffen sein können.